Atelier

Die Persönlichkeit ist interessant, nicht die Blindheit

doku.klasse

Die doku.klasse mit Bernd Sahling zu seinem Projekt „Im Nest der Katze“

Bernd Sahling ist nicht unbedingt ein Anhänger von Treatments im Dokumentarfilm. „Ein Treatment zu schreiben, ist schwierig für einen Dokumentaristen. Wir beschreiben Dinge, die wir beobachtet haben. Aber die Situationen sind meist andere, wenn irgendwann gedreht werden kann.“ Daher hat er in seinem Konzept den Fokus auf die vorherigen drei Teile seiner Langzeitbeobachtung von Anne gelegt. Er begleitet die blinde junge Frau schon seit ihrem zweiten Lebensjahr. Vor kurzem hat sie ihr Studium in Leipzig abgebrochen und ist zurück zu ihren Eltern nach Erfurt gezogen. Ein neuer Lebens-abschnitt beginnt – und Sahling möchte ihn vor dem Hintergrund des Vergangenen dokumentieren.

Im Workshop wurde die Rolle des Regisseurs selbst diskutiert, als langjähriger Vertrauter der Familie der Protagonistin. Er kenne natürlich die Konflikte und dürfe als Freund vielleicht anders fragen denn als Fremder, sagte Sahling. Das bringe aber auch ein besonderes Maß an Verantwortung mit sich. „Die Frage ist immer: Was wollen wir am Ende der Öffentlichkeit preisgeben?“

Mit ihren mittlerweile über 30 Jahren entspricht Anne nicht mehr der Vorgabe von 3sat für das Höchstalter der Protagonisten. Für die Klasse war das kein Problem. Anne stünde jetzt an einem Punkt in ihrem Leben, an dem sich auch viele mit Mitte 20 befinden können. Und: Ihre Blindheit habe nicht den Ausschlag für die Auswahl des Stoffes gegeben. „Annes Konflikte existieren auch abseits von ihrer Blindheit“, sagte ein Teilnehmer. „Man kann sich mit ihr identifizieren.“ Für Bernd Sahling ist das ein wichtiger Punkt: „Wenn die Blindheit das eigentliche Thema des Films sein müsste, würde ich ihn nicht machen wollen. Annes Persönlichkeit interessiert mich und wie sie ihr Leben gestaltet. Da ist Blindheit ein Aspekt von vielen.“

Sie kennen die Zusammenarbeit mit Kindern und Jugendlichen aus Ihren Filmen und den vielen Filmwerkstätten, die Sie schon veranstaltet haben. Was waren für Sie die hervorstechendsten Merkmale der doku.klasse?
Zunächst einmal die Zeit. Man muss nicht hetzen, keiner rennt nach einer halben Stunde zum Bus. Wir hatten einen ganzen Vormittag, um uns zusammen Ausschnitte aus meinen vorherigen Langzeitdokumentationen anzusehen, und dann noch einmal drei Stunden für das aktuelle Projekt. Was ich noch bemerkenswert fand, war die detaillierte Vorbereitung der Teilnehmer. Auf dem Boden lagen Zeichnungen, die für Themen standen, die in einem Seminar vor unserem Treffen diskutiert wurden und sich für die Jugendlichen aus dem Projektvorschlag ergeben haben. Ich fühlte mich fast an die Gliederung meiner Diplomarbeit über dokumentarische Langzeitprojekte erinnert. (lacht)

Kamen in der Diskussion Aspekte zur Sprache, die Ihren Blick auf den Stoff verändert haben oder die Sie in die weitere Arbeit an dem Projekt eventuell miteinfließen lassen?
So eine intensive Diskussion verändert immer etwas oder bringt einen auf neue Gedanken. Zum Beispiel sprachen wir darüber, welche Fragen die Teil-nehmer Anne stellen würden. Eine Frage war: Was willst du in zehn Jahren erlebt und erreicht haben? Auch wenn ich die Frage im Film so höchstwahrscheinlich nicht stellen würde, ist es doch ein wesentlicher Aspekt: Wie geht es jetzt weiter, nachdem es mit dem Studium nicht so geklappt hat wie erhofft? Muss es einen Plan geben? Oder geht es auch ohne ganz gut?

Könnten Sie sich vorstellen, weiter mit der doku.klasse an dem Projekt zu arbeiten?
Die Idee ging mir gerade durch den Kopf, als ich nach dem Seminar im Zug saß. Ich würde die Gruppe, sofern das Projekt realisiert wird, gerne in die Rohschnittgespräche einbeziehen. Gerade weil ein Rohschnitt im Dokumentarfilm oft sehr von dem abweicht, was mal im Treatment auf dem Papier stand. Die jungen Leute könnten dabei einen Einblick in diese Phase der Dokumentarfilmentstehung bekommen und ich ein zusätzliches Feedback. Etwa wo der Rohschnitt noch hakt oder schlicht langweilig ist. Letztendlich wissen wir erst am Schneidetisch, was wir im Rahmen der Produktions-bedingungen und abhängig von vielen Zufällen auf die Festplatte bekommen konnten. Da fängt die Bucharbeit für den Film von vorne an.