Atelier

„Eine monotone und öde Welt“

doku.klasse

Vor einem Jahr waren Insa Onken und Gerardo Milsztein mit Ihrem Exposé „Ich, Kevin“ in der doku.klasse zu Gast. Mit dem neuen Titel „Auf dem Weg“ wird der Dokumentarfilm am kommenden Wochenende erstmalig ausgestrahlt. Eine lange Strecke liegt dazwischen – nicht nur für den Protagonisten. Im Interview mit der doku.klasse blickt Gerardo Milsztein zurück auf die Dreharbeiten von „Auf dem Weg“.


Da wir das Exposé kennen, in dem ihr die Idee für den Film beschreibt, interessiert uns natürlich, warum sich einige Aspekte im realisierten Film nicht wiederfinden. Im Treatment spielte beispielsweise das Theater, in dem sich Kevin engagiert, eine große Rolle. Im Film hingegen nimmt es wenig Raum ein. Wie kam es zu dieser Entwicklung?
Am Anfang unserer Gespräche mit 3sat sind wir davon ausgegangen, dass wir nicht nur 28’30 sondern 44 Minuten Film zur Verfügung haben würden. Und wir waren uns sicher, dass Kevin seine Ausbildung als Koch machen würde. Das hätte uns eine andere dramaturgische Zeiteinteilung erlaubt. Aber in der Programmgestaltung eines Senders passieren Veränderungen, die manchmal nicht zwingend mit Filmdramaturgie oder inhaltlichen Entscheidungen zu tun haben. Im Zuge der Produktionsgespräche wurde uns klar, dass wir weniger Filmzeit als gedacht zur Verfügung haben würden – und wollten trotzdem Kevins Leben und Biografie gerecht werden, so wie sie sich vor unsere Augen neu entfaltete.

Auch Kevins Weg nach dem Abi wird im Film nicht thematisiert. Im Treatment wurde seine angefangene Ausbildung zum Koch angesprochen. Warum habt ihr euch dagegen entschieden, diese Zeit zu erzählen?
Nachdem wir das Exposé geschrieben hatten und noch vor der Zusage von 3sat, hatte sich Kevins Leben und beruflicher Werdegang enorm verändert. Kevin musste die neu ange-fangene Ausbildung als Koch in der Systemgastronomie – die er während der Theater-maßnahme JOBACT vom Jobcenter Düsseldorf für sich organisierte – aus gesund-heitlichen Gründen für immer abbrechen. Wegen einer starken allergischen Reaktion seiner Hände auf Wasser und Chemikalien, wurde seine Haut wund und heilte nicht. Aus zeitlichen Gründen konnten wir das im Film nicht thematisieren. Uns schien es wichtiger und angemessener, diese neue Situation in Kevins Leben zu erzählen, als seine Vergangenheit beim Theaterprojekt JOBACT. Die Dreharbeiten endeten am 4. August damit, dass Kevin anfing, für sein externes Abi zu lernen. Wir können nicht noch weitere ein bis zwei Jahre warten, bis er sein Abi macht und dann schauen, was aus ihm wurde…

Die Mutter hat im Film einen großen Gesprächsanteil. Sie wirkt zeitweise wie eine zweite Hauptprotagonistin. In den gesetzten Interviews mit der Mutter versucht sie eine Erklärung dafür zu liefern, warum es Kevin schlecht geht und drängt ihn damit in eine Opferrolle. Das hat mich gewundert, denn Kevin wirkt auf mich nicht so, als dass er sich von der Situation gebeutelt sieht. Ich finde, er ist ein sehr starker Charakter. Warum habt ihr euch dazu entschieden, so viel Material von der Mutter mit in den Film zu nehmen und ihre Aussagen seinen entgegenzusetzen?
Diese Mutter ist Kevins Mutter – aber keine zweite Protagonistin. Obwohl während unserer Recherche Kevin sehr offen von seiner frühen Kindheit erzählte, hatte er vor der Kamera doch Hemmungen, sich damit auseinanderzusetzen und sich vor Zuschauern dazu zu äußern. Er erlebte das Scheitern seiner beruflichen Pläne und war wenig bereit, emotional und selbstkritisch in seine Kindheit und frühe Jugend zu blicken. Trotzdem hat er uns sogar empfohlen, seine Mutter vor der Kamera zu befragen, sollten wir mehr darüber wissen wollen. Obwohl Kevin ein starker Charakter ist, sind wir davon überzeugt, dass er seine Traumata aus dieser Zeit noch nicht überwunden hat – deswegen stehen sie ihm im Wege. Wenn wir nichts über seine Vergangenheit, und das was noch an ihm nagen könnte, erfahren, können wir die tieferen Motive seines Schulversagens nicht verstehen, gerade weil er sehr intelligent ist.

Kevin war immer mit uns ehrlich, und wir sind auch ehrlich mit ihm gewesen. Er hat den Film schon gesehen und war mit allem einverstanden. Und auch dankbar, weil er an unseren Fragestellung und unserem Bedürfnis, ihn zu verstehen, gewachsen ist.

In der doku.klasse habt ihr viel über die Kameraarbeit erzählt. Die „Spiegel-technik“, um Interviews zu filmen, war ein großes Thema. Hat sich diese für euch bewährt und sich das Versprechen, auf diese Weise direkter mit dem Protagonisten ins Gespräch zu kommen, eingelöst?
Wir haben uns entschieden, einen chronologischen Film zu erzählen. Mit der Spiegel-technik haben wir ein Interview geführt ganz am Anfang der Dreharbeiten. Dabei haben wir gemerkt, dass Kevin in diesem Setting, das produktionstechnisch aufwendig ist und bestimmte räumliche Bedingungen braucht, sich viel bedachter verhält, als wenn wir spontane Gespräche mit ihm führen. Es gab auch Orte, an denen es unmöglich war, die Spiegeltechnik einzusetzen. Und wir wollten ihn nicht zu oft mit den Interviews aus seiner Welt herausholen. Hinzu kamen die Länge seiner Haare und die filmische Kontinuität, vor allem in Hinblick auf seine Aussagen, die im Laufe des Films im Off gestreut sind, aber nicht immer chronologisch eingefangen wurden. Wir wollten zum Ausdruck bringen, wie sich seine äußerliche Erscheinung im Laufe der Zeit veränderte. Auch deswegen konnten wir Kevin nicht immer im On des Spiegeltechnik-Interviews zeigen.

Die Szenen im Amt und in der VHS zeigen die Monotonie, die diese Orte und Gespräche in sich tragen. Warum war es euch wichtig, diesen Szenen so viel Raum zu geben?
Es ist Kevins Welt. Eine monotone und öde Welt. Und es ist einfach die Welt, die in den letzten 10 Monaten Kevins Leben bestimmt hat. Seitdem Kevin klein ist, war seine Familie im deutschen Sozialsystem eingebunden. Er ist mit Schreiben von Ämtern, Kürzungen und Behördengesprächen aufgewachsen. Wir haben ihn so nah, wie es uns möglich war, begleitet und diesen Situationen den Raum gegeben, den wir für dramaturgisch notwendig hielten. Es ging uns darum, die Monotonie zu vermitteln, die auch Kevin während der Zeit erlebte, nachdem ihm die Allergie in die Quere kam und es ihm unmöglich wurde, seinen ursprünglichen Plan umzusetzen. Kevin war in erster Linie damit konfrontiert, einen Weg, seinen Weg zu finden: durch die Behörden und durch das Schul- und Jobcentersystem.

Ich habe den Film als Kritik am (Ausbildungs-) system verstanden? War das eure Stoßrichtung bzw. sehr ihr das auch als Kernaussage?
Für uns ist es klar, dass es Kinder und Jugendliche gibt, die gar kein Problem haben sich an das Schul- und Bildungssystem anzupassen. Andere wie Kevin, passen da gar nicht hinein. Kevin erwähnte, er hätte eine kleinere Klasse gebraucht, mit Lehrern, die sich individueller auf die Bedürfnisse der Schüler konzentrieren können und die es den Schülern ermöglicht, im eigenen Tempo zu lernen. Er dachte, das sei eine utopische Wunschvorstellung. Er wusste nicht, dass es in Deutschland so etwas gibt. Ein indivi-duelles Förderungssystem ist aus finanziellen, kulturellen, informativen oder familien-bezogenen Gründen nicht allen Schichten der Gesellschaft zugänglich.
Wir formulieren keine Kritik am Bildungssystem im Allgemeinen. Sondern wir wollen in einer konkreten Situation die Frage stellen, wie man Kinder und Jugendliche unterstützen kann, die nicht mit dem Strom schwimmen können oder wollen und trotzdem viele Talente haben. Wo ist in der Bildung der Raum für das Nicht-Genormte? Wie kann man diese Schüler emotional erreichen, bevor sie als Lernende verloren gehen? Wie kann man diese Menschen führen, bevor sie ihren Weg verlieren. Kevin ist ein Beispiel von vielen. Wir hoffen, dass seine Geschichte andere erreicht, damit für sie der Weg durch das Bildungssystem einfacher läuft.

„Auf dem Weg“ ist derzeit in der 3sat-Mediathek zu sehen.