Atelier

Das grenzenlose Ich

Die doku.klasse öffnete während des doxs!-Festivals wieder die Türen ihres Ateliers. Mit Anja und Serjoscha und Mein letztes Video wurden zwei Filme gezeigt, die im Rahmen der aktuellen 3sat-Reihe „Ab 18!“ entstanden sind. Sie erzählen von Strategien der Selbstverwirklichung, zwischen denen Welten liegen.

Drei Performer auf unterschiedlichen Planeten. Hier Anja und Serjoscha im Südosten der Ukraine, die nur 25 Kilometer von der Frontlinie entfernt leben und gegen das Grau und die Gewalt schräge politische Aktionen setzen. Dort der YouTube-Star Anton, der genug hat von kurzen, schnelllebigen Clips und in den Hollywood-Hills nach einer neuen Herausforderung sucht. Auf der einen Seite eine Selbstverwirklichung voller Begrenzungen, auf der anderen ein grenzenloses Ich. Karge Perspektiven gegen ein cooles Powerleben.

„Anja und Serjoscha haben eine große Kraft.“ (Ivette Löcker)

Die Filme Anja und Serjoscha und Mein letztes Video, die beide im Rahmen der 3sat-Reihe „Ab 18!“ entstanden sind, erzählen vom Jungsein unter fast konträren Bedingungen. Und doch verbindet die Protagonisten eine Sehnsucht nach Veränderung. Sie sind im Aufbruch. Anton, der seit seinem 13. Lebensjahr unter dem Künstlernamen „Reyst“ Videotagebücher auf YouTube veröffentlicht und regelmäßig von bis zu einer halben Million Abonnenten gesehen wird, sucht nach einem neuen Format für seine Kreativität und träumt von einer Karriere als Filmregisseur. Anja und Serjoscha reiben sich an der Gesellschaft, provozieren, stellen Konventionen und Stereotypen in Frage. Sie nehmen sich das Recht heraus, auch in einer politisch und wirtschaftlich hochfragilen Situation über Sexismus zu diskutieren, Ideen zu entwickeln und frei und verrückt zu sein.

„Anja und Serjoscha sind so zart und verletzlich, haben aber gleichzeitig auch diese große Kraft. Sie wollen etwas erreichen. Was genau, wissen sie noch nicht, aber sie geben nicht auf“, sagte Regisseurin Ivette Löcker nach der Vorführung ihres Films im Duisburger filmforum. Ihr war es wichtig, den Krieg nicht zum Hauptthema zu machen. „Die Jugendlichen wollen sich nicht jeden Tag mit dem militärischen Konflikt in ihrer Nähe beschäftigen. Sie haben ihre eigenen Probleme und Ziele und wollen manchmal einfach nur Spaß haben.“ In einer Szene besuchen Anja und Serjoscha ein Konzert der ukrainischen Band „Dakh Daughters“, Superstars in ihrem Land. Die beiden Freunde tauchen ein in die Musik und beginnen zu schweben, verflogen sind die ganze Schwerkraft und Melancholie ihres Alltags.

„Vielleicht haben wir weniger Angst zu sterben als zu leben.“ (Serjoscha)

Anja und Serjoscha feierte in Duisburg seine Deutschlandpremiere. Neben ihrem Editor Dieter Pichler hatte Ivette Löcker auch ihre Co-Regisseurin Inga Pylypchuk mitgebracht, eine in Kiew geborene, mittlerweile seit zehn Jahren in Deutschland lebende Journalistin. Sie war für das Projekt durch ihre geografischen und sprachlichen Kenntnisse von großer Bedeutung. „Wir hatten verschiedene Orte angedacht“, erzählte sie, „auch im Separatisten-Gebiet.“ Die Wahl fiel schließlich auf die Industriestadt Mariupol, die sich laut Pylypchuk wegen der Besetzung des Donbass immer stärker zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Region entwickelt.

Für Diskussionsstoff sorgte das Ende des Films – Ivette Löcker wechselt in den letzten Minuten von der reinen Beobachtung in eine Interviewsituation und fragt ihre Protagonisten nach ihren Zukunftsvorstellungen. Durch die Änderung der Erzählperspektive, sagte der Regisseur und Autor Constantin Wulff, sei das „Flanierende“ des Films plötzlich vorbei und stelle ihn in ein anderes Licht. Löcker erwiderte: „Mir ging es beim Schluss darum, das Ernste und Existentielle der Welt, in der Anja und Serjoscha leben, zusammenzufassen.“ Und in der Tat weicht die anarchische Überdrehtheit der beiden für einen Moment einer konzentrierten Nachdenklichkeit. „Vielleicht haben wir weniger Angst zu sterben als zu leben“, sagt Serjoscha. Und: „Die Gedanken über die Zukunft machen Angst.“

„Wir wollten nicht an der Oberfläche kleben bleiben“ (Andreas Bolm)

Seit fünf Jahren begleitet die doku.klasse die „Ab 18“-Reihe von 3sat. Zur Präsentation des diesjährigen Jahrgangs waren neben zahlreichen TeilnehmerInnen auch die Kooperationspartner und Förderer des doxs!-Projekts nach Duisburg gekommen: Udo Bremer, Ingrid Gränz und Katya Mader von der 3sat-Filmredaktion sowie Johannes Dicke von der Stabsstelle Programmplanung ZDF/3sat und Ruth Schiffer, die Filmreferentin des Landesministeriums für Kultur und Wissenschaft. Dazu stellten sich mit Katharina Pethke und Joakim Demmer die zwei aktuellen doku.klasse-StipendiatInnen dem Festivalpublikum vor. Aycha Riffi von der Grimme-Akademie führte durch die Veranstaltung.

Mit großer Spannung war Andreas Bolms und Gerd Breiters Porträt des YouTubers Anton erwartet worden, das die doku.klasse 2017 noch im Exposé-Status mit den beiden Filmemachern analysiert und diskutiert hatte. Einige der SchülerInnen im Publikum outeten sich als „Reyst“-Follower – und sahen auf der Leinwand einen selbstbewussten jungen Mann, der sich perfekt in Szene zu setzen weiß. Für die Regisseure, die Anton ein Jahr lang begleitet haben, war die Selbstinszenierung ihres Protagonisten am Anfang ein Problem. „Die ersten Tage fragten wir uns: Wie kommen wir weg von Antons „Reyst“-Sein?“, erzählte Andreas Bolm. „Wir wollten nicht nur an der Oberfläche kleben bleiben, denn darin ist Anton einfach besser als wir.“ Erst mit der Zeit fasste der 21-Jährige Vertrauen und öffnete sich mehr. Ganz gibt er die Kontrolle bis zum Schluss nicht aus der Hand. Bolm: „Wir benutzten ihn für unser Projekt so, wie er uns für seines benutzt hat.“ Und das heißt für Anton: der schrittweise Abschied aus der Blogsphäre hin zur Filmindustrie.

„Ein Ablösungs- und Reifungsprozess.“ (Gerd Breiter)

Wie ein Conferencier seiner Neuerfindung führt er seine Fans mit der Kamera durch das Appartement in Hollywood, in dem er sich einquartiert hat. Mein letztes Video beobachtet ihn bei seinen Dreharbeiten – für den Blog wie für seinen ersten Film – und verwendet Material aus seinen Videotagebüchern. „Unser Ziel war es“, so Gerd Breiter, „dass seine und unsere Bilderwelten sich annähern und ineinanderfließen.“ Immer deutlicher wird, wie sehr Anton inzwischen aus YouTube herausgewachsen ist. Breiter: „Ihm fiel manchmal einfach nichts mehr ein. Diesen Ablösungs- und Reifungsprozess versuchten wir herauszuarbeiten.“

Zum Schluss fragte ein Zuschauer, wie der Protagonist den Film fand. „Er war angetan, ja berührt“, antwortete Andreas Bolm. „Anton hatte keine wirkliche Vorstellung von dem, was wir machen.“ Zwei grundverschiedene Planeten auch hier, deren Umlaufbahnen sich für eine Zeit kreuzten – mit einem guten Ergebnis.