Atelier, Salon

“Es wurde eine Grenze überschritten”

2021 präsentierte Robin Humboldt in der doku.klasse seinen Stoff  Only for the moment, konnte das Projekt jedoch nicht realisieren. Was die Gründe dafür waren, erzählt der Regisseur im Gespräch mit Aycha Riffi.

A: Wie entstand Idee zu einem Film über Alex? Und was war deine Motivation dafür?
R: Die Idee war, einen Langfilm zu machen, und lag schon ein paar Jahre zurück. 2016 haben wir Alex kennengelernt, einen jungen Mann, der in Stuttgart als Escort gearbeitet hat. Wir hatten damals den Plan, eine Art Milieustudie über männliche Prostitution zu drehen. Durch das Gerd Ruge Stipendium gab es die Möglichkeit, nach Stuttgart zu ziehen und dort in einer Anlaufstelle für Sexarbeiter*innen zu arbeiten. So lernten wir Alex kennen, der sofort aus der Gruppe herausstach. Er wirkte reifer, erwachsener, und Partys waren für ihn weniger zentral. Er war eher auf einer Sinnsuche und interessierte sich für Philosophie und Psychologie. Schnell wurde uns klar, dass er einer der Protagonisten werden könnte, auch, weil man mit ihm gute Gespräche führen konnte. Und dann haben wir Zeit investiert, um ein Vertrauensverhältnis aufzubauen, zu ihm, aber auch zu seinem Umfeld, da wir ihn in seinem Alltag und in Interaktion mit Kollegen begleiten wollten. Erst war Alex clean, doch dann fing er wieder an, Drogen zu nehmen. Das setzte eine Abwärtsspirale in Gang, die letztendlich zu seiner Inhaftierung führte. Das war der Moment, an dem wir das Projekt zum ersten Mal auf Eis legen mussten. 

A: Dein 2014 erschienener Film Am Kölnberg, den du gemeinsam mit Laurentia Genske realisiert hast, war auch eine Art „Milieustudie“.  Was interessiert dich als Filmemacher an Menschen in mitunter auch sehr schwierigen Lebenssituationen?
R: Ich möchte mehr darüber erfahren, nicht auf eine voyeuristische Art, sondern manchmal auch voller Bewunderung. Denn einige Menschen legen einen Überlebenstrotz an den Tag, obwohl sie vielleicht nicht die besten Karten hatten, und schaffen es, nicht den Lebensmut zu verlieren. In Am Kölnberg gab es eine Frau, die heroinabhängig war und deren Tag mit Konsum und Beschaffung gefüllt war, die aber auch Gedichte schrieb und Bilder malte. Ich bewundere das, weil ich glaube, dass ich mich in dieser Situation gehen lassen würde. Dokumentarfilme bieten da eine gute Möglichkeit, Zuschauer*innen zu zeigen, welche Realitäten es in unserer Gesellschaft noch gibt.

A: Manchmal werden bestimmte Vorurteile bestätigt, aber es werden auch ganz viele nicht bestätigt und man sieht etwa, wie du es eben auch beschrieben hast, dass die Menschen unglaublich kreativ sind. Das war auch ein Punkt, der uns an deinem Exposé bzw. an Alex interessiert hat. Doch das Filmprojekt war dann alles andere als einfach für dich.
R: Ja, es kam dann die Nachricht, dass Alex einen Menschen umgebracht hat und inhaftiert wurde. Da war die Motivation dann erstmal zwei, drei Jahre komplett weg, weil dies natürlich sehr erschütternd war. Und darüber hinaus wollten wir keinen Film über einen Mordfall machen, sondern über einen Menschen – der uns ab da aber abhandengekommen ist.

A: Das heißt, dass es an dieser Stelle eine „rote Linie“ für dich gab?
R: Ja, in diesem Fall wurde eine Grenze überschritten. Ich war sogar Zeuge in seinem Prozess, weil ich über Facebook lange sein einziger Gesprächspartner war. Dadurch war ich viel tiefer drin, als ich es eigentlich wollte. Das Projekt lag anschließend lange in der Schublade, bis die Idee kam, es bei der 3sat Ausschreibung “Ab 18” einzureichen. Zwischenzeitlich stand ich mit Alex in Kontakt und merkte, dass er wieder clean war und dass es möglich ist, im Gefängnis Gespräche mit ihm zu führen. 

A: Im dokumentarischen Film gibt es fast immer zwei Dinge: Einen Plan, den man sich als Filmemacher*in vornimmt und das, was letztendlich passiert. Kannst du sagen, wie du dir den Film vorgestellt hast?
R: Der Film hätte zu weiten Teilen aus dem beobachtenden Filmmaterial bestanden, das wir in den Monaten, bevor es zum Mord kam, gedreht hatten. Ergänzt hätten wir das in einer zweiten Ebene mit den Nachrichten, die er mir geschickt hat. Das waren starke Texte mit einer poetischen und literarischen Kraft. Dadurch hatten wir die Möglichkeit, aus seiner Perspektive zu erzählen und ihm auch eine Stärke zu geben.

A: Wir trafen uns mit der doku.klasse in Duisburg im Herbst 2021. Da warst du gerade mitten im Filmprojekt. Wieso hast du dich darauf eingelassen, mit uns über dein Exposé zu reden und deine Pläne und Ideen mit der doku.klasse zu teilen?
R: Es ist schwierig, wenn man eigentlich noch mitten in einem Schaffensprozess ist und dann zwischendurch Feedback bekommt. In dem Fall war es gut, weil wir schon einen ganzen Block des Films hatten. Zu dem Zeitpunkt war ich auch noch total offen, was die Form anging und war gespannt, mit jungen Menschen darüber reden zu können und zu erfahren, was sie an Alex fasziniert. Nach dem doku.klasse-Workshop hatte ich das Gefühl, dass sich die Leute dafür interessieren und es ein runder Film wird. Vorher war ich mir da nicht sicher, ob das über den schrecklichen Vorfall hinaus klappen könnte.

A: Machst du Filme für ein bestimmtes Publikum oder spielt das erstmal keine Rolle?
R: Darüber habe ich mir bisher noch nicht viele Gedanken gemacht. Man sagt, Dokumentarfilme werden eher von älteren Menschen geguckt. Aber ich glaube, man macht es eher für Leute in seinem eigenen Alter. Ich will, dass der Film Leuten aus meinem Umfeld gefällt, und sie sind auch ein Maßstab. Also wenn ich merke, meine Freunde würden sich das gar nicht angucken, dann würde ich daran zweifeln, ob es gut ist. Wobei, wenn man eine Idee aufschreibt, sind die Adressat*innen erstmal Auswahlgremien und Sendervertreter*innen, die zunächst von dem Vorhaben überzeugt werden müssen.

A: Was wir bei deinem Stoff wirklich lernen und sehen können, ist, dass Zeit eine große Rolle spielt, ebenso Zufall und Glück. Diese Faktoren sind häufig entscheidend beim Dokumentarfilm und kommen bei deinem Stoff wirklich sehr stark zum Tragen. Wann ist die Entscheidung gefallen, dass der Film nicht zu Ende gedreht wird?
R: In dem Fall hat es der Protagonist selbst entschieden. Wir hatten nach fast einem Jahr Überzeugungsarbeit und zahlreichen Briefen und Telefonaten an das Justizministerium die Genehmigung, in der JVA zu filmen. Es gab viele Vorgespräche mit Alex, und der Dreh stand. Am ersten Drehtag hat er sich dann entschieden, doch nicht zu erscheinen. Man muss dazu sagen, dass er sich zu diesem Zeitpunkt seinem Alltag in der Haft komplett verweigert hat und zwischenzeitlich auch im Krankenhaus war. Aber ich weiß nicht, was ihn letztendlich dazu bewogen hat. Kurz vorher war er noch froh, dass es mit dem Film weiterging, und ich hatte das Gefühl, dass es eine Bereicherung für ihn sei, sich wieder äußern zu können Aber dann reagierte er nicht mehr auf meine Briefe. Ab dem Moment war klar, dass wir auch das alte Material nicht mehr verwenden werden.

A: Du hast so unglaublich viel Zeit und unbezahlte Arbeit in das Projekt gesteckt. Wie geht das, mit so etwas abzuschließen? Und hast du dich auf professioneller und/oder emotionaler Ebene von Alex verabschieden können?
R: Es ist schwierig, abzuschließen, und ich fühle mich durch die gemeinsame Zeit noch mit Alex verbunden. Andererseits hoffe ich aber auch, abschließen zu können. Es war manchmal eine sehr ambivalente Entscheidung, wie der Kontakt gehalten werden kann, um mit dem Film weitermachen zu können. Es ist beispielsweise wichtig, die Entscheidung zu treffen, welche Kontaktdaten man selbst weitergibt – die Büro- oder Wohnungsadresse? Und so entsteht natürlich auch ein Ungleichgewicht. Und das hat auch Alex gespürt. Das war vielleicht ein Punkt, an dem für ihn das Vertrauensverhältnis auch nicht mehr komplett da war. 

A: Das ist total nachvollziehbar von beiden Seiten. Ich frage mich in dem Kontext, ob man in der Filmschule auf das Arbeiten mit Protagonist*innen vorbereitet wird. Man hat mit realen Menschen zu tun und muss mitunter schwierige Entscheidungen treffen. Haben die aktuellen Erfahrungen Einfluss auf deine Arbeit als Filmemacher?
R: Meine Tendenz geht dahin, dass ich mir bei allen zukünftigen Projekten die Frage stelle, was es mit meiner eigenen Psyche macht. Kann ich so lange Zeit mit den Menschen an den Orten verbringen? Gibt es auch mal „schönere Orte“, wo es auch interessante Geschichten gibt? Viele Filmemacher*innen machen ja auch einen Mix und wechseln die Genres. Was auch abgewogen werden muss, ist die intensive unbezahlte Arbeit, bei der man ohne finanzielle Sicherheit weit in Vorkasse gehen muss. Oft sind es andere Jobs, die es erlauben, Zeit in den Dokumentarfilm zu stecken.

A: Respekt dafür, dass du so lange an dem Filmvorhaben festgehalten hast. Im Workshop mit der doku.klasse waren wir sehr angetan von deinem Exposé, und Alex’ Geschichte ist uns sehr nahe gegangen. Und mit der Beschäftigung haben wir – so denke ich – Einiges erfahren und lernen können. Herzlichen Dank dafür und für das Interview!