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 „Letztlich braucht es beides: Vertrauen und Distanz“

Die Referenz erweisen (3): Die Filmkritikerin Esther Buss im Gespräch mit der Dokumentaristin Ivette Löcker.

 „Ich versuche, meinen Figuren nahe zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, das bedeutet aber nicht, dass ich ihnen unkritisch gegenüberstehe. Meine Perspektive auf sie bleibt erhalten, sie muss auch erhalten bleiben.“

Esther Buss: Ivette, Du machst Porträtfilme, das heißt im Zentrum deiner dokumentarischen Arbeiten stehen Menschen, nicht ein bestimmtes Thema. In Anja und Serjoscha (2018) porträtierst du zwei Jugendliche, die in einer Industriestadt nahe der Kriegsfront im Südosten der Ukraine leben, in Wenn es blendet, öffne die Augen (2014) filmst du ein drogensüchtiges Paar in ihrer beengten Plattenbauwohnung in St. Petersburg. Nachtschichten (2010) folgt Menschen auf ihren nächtlichen Wegen durch die Berliner Großstadt. Wie findest du deine Figuren?

Ivette Löcker: Ich finde meine Protagonist*innen auf ganz unterschiedlichen Wegen. Manchmal steht das Interesse für ein Thema oder eine Fragestellung zuerst im Vordergrund und ich suche dann die Begegnung mit entsprechenden Figuren, wie zum Beispiel bei Nachtschichten. Mich hat damals die Frage beschäftigt, welche nächtlichen Freiräume erhalten bleiben und wo Menschen Rückzugsorte finden können, wenn sich die Nacht durch gesellschaftliche Veränderungen und neue Arbeitsbedingungen immer mehr zum Tag wandelt. Ich habe also nach Menschen gesucht, die ohne die Nacht nicht leben könnten. Bei Anja und Serjoscha hat mich die Frage umgetrieben, wie es jungen Menschen in der Ukraine mit so einem existentiellen Einschnitt wie dem Krieg ergeht: Wie ist es für jemanden, der heranwächst, der auf der Suche nach einem eigenen Lebensentwurf ist, und plötzlich eine Haltung zum Krieg finden muss? Gemeinsam mit Inga Pylypchuk, einer befreundeten Journalistin aus Kiew, die in Berlin lebt, habe ich nach Personen recherchiert. Wir bekamen über Ingas ukrainisches Netzwerk den Hinweis auf Jugendliche in Mariupol, die eine Aktion gegen Sexismus und Genderstereotypen durchgeführt hatten. Als wir Anja und Serjoscha vor Ort kennenlernten, waren wir von ihrer Energie, ihrem Humor und ihren fantasievollen Ideen gleich fasziniert. Sie setzten einem grauen Alltag nahe der Kriegsfront ihren fröhlichen Lebensmut entgegen. Mir gefiel, dass sie reflektiert und neugierig auf ihre Welt schauen.

Die beiden haben durch ihre Performancearbeit ja schon eine gewisse Bühnenpräsenz.

Genau. Als wir sie kennengelernt haben, waren sie 17, noch etwas schüchtern. Damals hatten sie gerade erst damit angefangen, sich auf der Straße im Zentrum Mariupols zu zeigen. Sie haben sich damals den Aktivist*innen der Kulturplattform „Tju” angeschlossen, die viele Demonstrationen organisieren, z.B. zum 8. März, dem Internationalen Frauentag, und dort auf Frauenrechte aufmerksam machen, oder Aktionen für die Rechte von LGBTQI+ Menschen. In diesem Umfeld haben Anja und Serjoscha viel Inspiration und Unterstützung gefunden. Das hat ihnen Selbstsicherheit gegeben.

In Anja und Serjoscha, aber auch in anderen deiner Filme, gilt deine Aufmerksamkeit mehr den alltäglichen Gewohnheiten und Routinen, nicht dem Außergewöhnlichen. In Anja und Serjoscha verbringt man als Zuschauerin ja erst einmal Zeit mit den Jugendlichen. Sie sprechen über die Zukunft, aber auch über die Gegenwart, sie gehen in einen Secondhandladen, machen eine Performance. Deine Form der Beobachtung ist sehr offen, du scheinst nichts zu forcieren. Gleichzeitig wirken die Szenen sehr ausgesucht, du bist nicht darauf aus, einen überraschenden Moment einzufangen. Was davon ist im Drehbuch festgelegt? Wie entstehen diese Situationen des Dabeiseins?

Ein Drehbuch im eigentlichen Sinn schreibe ich nicht. Es gibt eine Idee und es gibt die Fragen, denen der Film folgen soll. Es gibt Szenen und Situationen, die ich mir schon im Treatment vorstelle und die ich ausformuliere, die aber immer auf den Gesprächen oder auf meinen Erfahrungen mit den Protagonist*innen basieren. Ich versuche meist, beim Dreh einen Teil dieser erzählten und erlebten Erfahrungen wiederzufinden und umzusetzen. Den größeren Teil des Drehs nimmt aber die Offenheit für Situationen ein, die aktuell im Leben der Protagonist*innen stattfinden. Für mich ist es sehr wichtig, diese Offenheit zuzulassen, ein Gespür dafür zu entwickeln. In der Zeit zwischen der Recherche und dem Dreh können durchaus spannende Dinge passieren, die ich in der Vorbereitung nicht vorhersehen kann. Und ich will mich ja auch selbst überraschen lassen.

Bei Anja und Serjoscha war es zum Beispiel von Anfang an klar, dass wir sie bei einer Performance zeigen, weil es ihre Form von Protest gegen bestimmte gesellschaftliche Missstände zeigt. Sie wenden sich gegen konservative Normen und Vorstellungen davon, wie man zu leben oder auszusehen hat. Wir haben versucht, diesen Kontrast auf der inhaltlichen wie auf der visuellen Ebene zu verdeutlichen. Die beiden sind ja total bunt, Anja hat orangefarbene Haare, sie ziehen sich immer sehr farbenfroh an. Ihr philosophisch-anarchisches Dasein haben wir mit dem post-sowjetischen Stadtbild kontrastiert. Dazu gehört natürlich auch die Szene mit Anjas Eltern, welche die Werte einer anderen Generation vertreten. Insofern waren diese Szenen von mir ausgewählt oder ich habe sie angestoßen. 

Du bist als Dokumentaristin eher zurückhaltend. Gegen Ende gibt es aber dann doch klassischere Interviewsituationen, in denen du direkt eine Frage stellst.

Im Laufe der Arbeit an meinen Filmen hat sich herauskristallisiert, dass ich gerne aus Situationen heraus Gespräche und Interviews entwickle. Das gibt mir die Möglichkeit, bestimmte Themen oder Fragen stärker zu fokussieren. Das geht nicht, wenn man nur beobachtet und beispielsweise ein Gesprächsthema vorgibt, selbst wenn dabei oft tolle und unerwartete Gespräche herauskommen. Bei Anja und Serjoscha war es mir wichtig, ihnen diese Frage nach der Zukunft zu stellen. Meine Stimme ist auch der Verweis darauf, dass wir als Filmteam nicht abwesend sind. Wir gestalten die Rahmenbedingungen des Drehs. Dadurch greifen wir auch in die Wirklichkeit ein.

Filmstill aus Anja und Serjoscha von Ivette Löcker

Ich empfinde Dein Verhältnis zu Deinen Protagonist*innen in all deinen Filmen als sehr auf Augenhöhe. Wie würdest du beim Drehen Deine eigene Rolle beschreiben?

Wenn du sagst, du empfindest das Verhältnis auf Augenhöhe, dann habe ich das erreicht, was ich mir immer wünsche. Für mich ist es das Wichtigste, dass ich die Menschen so annehme, wie sie sind und wie sie sich mir zeigen. Ich versuche, ihnen gut zuzuhören. Ich habe kein Interesse daran, meine eigenen Thesen durch sie verwirklicht zu sehen. Es geht mir darum zu erfahren, was sie bewegt und aus ihren Antworten und Reaktionen Schlüsse zu ziehen und diese in einen Kontext zu stellen. Dabei handelt es sich dann um eine von mir verdichtete Wirklichkeit, so würde ich das bezeichnen.

Deine Filme erzählen über die Personen hinaus immer etwas über die Gesellschaft, in der sie leben. Anja und Serjoscha zum Beispiel zeigt, was es für Jugendliche bedeutet an einem Ort aufzuwachsen, an dem es so gut wie keine Zukunftsaussichten gibt. Wenn es blendet, öffne die Augen zeichnet auch ein Porträt der „Generation Post-Perestroika“, die nach dem Zusammenbruch des Eisernen Vorhangs mit den plötzlichen Freiheiten nicht umgehen konnte. Wie ergibt sich diese gesellschaftliche Perspektivierung?

Die gesellschaftliche Situation, das Umfeld, kann nicht ausgeklammert werden. Ich suche nach Wegen, wie dieser Kontext miterzählt werden kann, ohne dass es zu plakativ oder gar didaktisch wird. Ich möchte keine Panzer filmen, die durchs Bild fahren, damit man erahnt, dass Mariupol nahe der Kriegsfront ist. Das versuche ich auf subtilere Weise zu erzählen, wenn man Einschusslöcher und verfallene Gebäude sieht, oder ein Wandgemälde, das ukrainische Kriegshelden zeigt. Wir haben gezielt nach solchen Orten gesucht.

Wenn es blendet, öffne die Augen beginnt mit einer Stimmencollage, die uns den historischen Kontext der 1990er Jahre in Russland zu Gehör bringt. Der Film ist ja eine Art Kammerspiel, der die zerstörerischen Auswirkungen dieser sogenannten wilden Jahre auf ein Paar zeigt. Drei Songs der seit damals populären Underground-Punkband PTVP versetzen uns musikalisch, stilistisch und auch inhaltlich in diese Umbruchszeit. Die Konzertausschnitte fungieren als Kapiteltrennungen und ziehen so gleichzeitig eine Dimension ein, die über das Individuelle des Paares hinausgeht.

Deine Form der Beobachtung hat etwas Nüchternes, Ungekünsteltes, auch Knappes. Du versuchst in den Bildern nicht zu dramatisieren, Du verwendest auch keine zusätzliche Filmmusik – die Musik in Anja und Serjoscha beispielsweise ergibt sich allein aus der Szene eines Konzertbesuchs. Das hat etwas sehr Direktes.

Ich wünsche mir einerseits eine Klarheit, andererseits aber auch Zwischentöne – in den Bildern, in der Beobachtung, auf der Tonebene. Meine Filme haben ein ausgeklügeltes Sounddesign, das mir auch extrem wichtig ist. Das verändert Filme komplett. Auch wenn es keine Filmmusik gibt, werden manche der Szenen und Stimmungen dadurch verstärkt. Bei Anja und Serjoscha haben wir zum Beispiel einzelne Töne der Fabrikanlagen wiederholt auftauchen lassen oder das Meeresrauschen hervorgehoben. Auf der Tonebene kann es darum gehen, einen Höreindruck zu schaffen, der nicht unbedingt realistisch sein muss, im Sinne der real aufgenommenen und vorhandenen Geräusche. Bei Nachtschichten haben wir in der Postproduktion eine Nachtstimmung gebaut, um die Nacht, die einen „umhüllt” und wohlig ist wie „ein warmes Bad”, wie das ein Protagonist sagt, erfahrbar zu machen. In der Großstadt ist es nachts nicht leise, wegen des Autoverkehrs hört sich die Nacht laut und irgendwie „matschig” an. Wir haben versucht, das Magische der Nacht auch über den Ton zu vermitteln. Da haben wir uns nicht an die Realität gehalten.

Man spürt, dass zwischen Dir und deinen Protagonist*innen ein Vertrauensverhältnis besteht, gleichzeitig wahrst du immer eine gewisse Distanz.

Ich finde es wichtig, dass es eine Vertrauensbasis gibt, das werden viele Dokumentarfilmer*innen unterschreiben, ohne sie kann man diese Art von Dokumentarfilm nicht machen. Der Porträtierte oder die Porträtierte verlässt sich auf mich, das Material, das dabei entsteht, liegt ja in meinen Händen. Ich versuche, meinen Figuren nahe zu kommen und ihr Vertrauen zu gewinnen, das bedeutet aber nicht, dass ich ihnen unkritisch gegenüberstehe. Meine Perspektive auf sie bleibt erhalten, sie muss auch erhalten bleiben. Eine Aufgabe der Montage besteht darin, die Grenzen zwischen den Figuren und mir klarer zu justieren. Letztlich braucht es beides: Vertrauen und Distanz, aber es ist eine Gratwanderung.

In Wenn es blendet, öffne die Augen hat man es mit einer anderen Nähe und Intimität zu tun als in deinen anderen Arbeiten – allein schon räumlich, die Wohnung ist sehr eng, du musstest extrem nah an deine Protagonist*innen heran.

Diese Nähe hat sich auf interessante Weise entwickelt. Ljoscha habe ich über den Drogenbus kennengelernt, eine niedrigschwellige sozialarbeiterische Einrichtung, für die er arbeitet. Ich habe ihn zuerst für einen Sozialarbeiter gehalten. Es gab da eine gegenseitige Sympathie und er hat mich irgendwann zu sich nach Hause eingeladen. Dass wir dort drehen würden, ging dann aber sehr stark von seiner Freundin Schanna aus. Sie war sehr offen und ohne sie wäre der Film nicht entstanden. Mir ist über dieses Paar nochmals bewusst geworden, wie stark Drogenkonsument*innen in Russland stigmatisiert werden. Sucht wird nicht als Krankheit gesehen. Es gibt kaum Therapiemöglichkeiten. Schanna und Ljoscha haben sich uns auch geöffnet, weil wir ihnen als Menschen zugehört haben. Wir wollten wissen, wie ihre Geschichte ist, wie sie leben. Wir wollten nicht ihre Lebensweise verurteilen.

Im Film sieht man sehr explizite Szenen, etwa wie Ljoscha seiner Freundin und sich selbst Methadon spritzt.

Wir waren an den Drehtagen meist für mehrere Stunden anwesend und haben ihren Alltag gefilmt. Dazu gehörte eben auch, dass sie Drogen nehmen. Sie waren damit einverstanden, ohne dass wir vorher im Detail über einzelne Szenen gesprochen hätten. Vor allem Schanna war sich sehr bewusst, wie sie sich vor einer Kamera präsentieren und ihre eigene Geschichte erzählen kann. Ich fand bewundernswert, wie sie das furchtlos gezeigt hat.

Vor dem Dreh habe ich allerdings versprochen, dass der Film in Sankt Petersburg nicht öffentlich gezeigt werden und online nicht verfügbar sein wird. Ljoscha arbeitet ja für eine NGO, die Junkies betreut, deshalb wollte er nicht, dass zu viele Menschen davon wissen.

Deine Porträts sind auch Korrektive bestehender Erzählungen und Bilder: Ljoscha und Schanna haben etwas viel Alltäglicheres als die meisten Figuren in Suchtdokumentationen. Suchst du bewusst nach Gegenerzählungen?

Bei Wenn es blendet, öffne die Augen war es mir wichtig, nicht das Elend eines Junkie-Paares zu zeigen und damit herrschende Stereotypen zu bestärken. Ich war ja selbst überrascht davon, wie viel Solidarität und Liebe zwischen den beiden spürbar ist. Für mich ist es kein Film über die Sucht, sondern einer über eine ungewöhnliche Liebesbeziehung. Ich habe nicht explizit nach einer Gegenerzählung gesucht, aber mir war klar, dass ich mit den beiden eine starke Gegenerzählung gefunden habe. Oder die mich gefunden hat. Ich interessiere mich für Menschen, die Außenseiter sind, die man leicht übersieht oder die als ganz gewöhnliche Figuren gelten.

Der Film Anja und Serjoscha ist auf der 3sat-Mediathek abrufbar.

 

Ivette Löcker ist aufgewachsen in St. Michael i. Lg./Salzburg (Österreich). Sie studierte Slawistik (Russisch), Osteuropäische Geschichte und Soziologie an der Universität Wien. Seit 1997 arbeitet sie als Regieassistentin, Rechercheurin und Produktionsleiterin bei verschiedenen Dokumentarfilmen, u.a. „Pripyat“ (1999) von Nikolaus Geyrhalter und „Hat Wolff von
Amerongen Konkursdelikte begangen?“ (2002) von Gerhard B. Friedl. Seit 2006 produziert sie Filme unter eigener Regie.

Esther Buss lebt und arbeitet als frei schaffende Filmkritikerin in Berlin. Veröffentlichungen u. a. in kolikfilmJungle WorldFilmdienstSissy und Der Tagesspiegel. Seit Anfang 2021 arbeitet sie im Rahmen des Siegfried-Kracauer-Stipendiums zum First Person Cinema.