Kritik der reinen Vernunft

„Spielen und glücklich sein“

doku.klasse

Eine Kritik von Delia West zu Irene von Albertis Dokumentarfilm „Hassans Films“ – entstanden in der 3sat-Reihe „Ab 18!“

Hassan ist 25 Jahre alt.  Mit circa drei Jahren ist er aus dem Libanon nach Berlin-Neukölln gekommen. Einen Schulabschluss hat er nicht. Stattdessen wurde er für die Schauspielerei entdeckt und spielt neben dem Theater auch in einigen Spielfilmen mit. Mit seinen Rollen als Krimineller oder Drogendealer kann Hassan sich nicht identifizieren. Er will Menschen darstellen und keine Klischees bedienen.
Kurzerhand entscheidet Hassan selbst ein Drehbuch zu schreiben. Thematisch handelt es nahezu eins zu eins von seinem bisherigen Leben. Irene von Alberti und ihr Filmteam begleiten Hassan nach Bruchsal, einem kleinen Ort in der Nähe von Karlsruhe. Verschiedene Szenen aus seinem Drehbuch werden dort verfilmt, um sie später zusammen mit dem Treatment an Redaktionen zu verschicken.

Direkt zu Beginn erhält man den Eindruck, dass der Filmemacherin ein spielerischer Umgang mit Kamera und Schnitt wichtig ist. Bereits die ersten Sequenzen des Films zeigen nicht nur die Bilder des Kameramanns, sondern auch die von Hassan  gefilmten Aufnahmen. Der Zuschauer kann sogar das Filmteam bei der Arbeit beobachten – was mir persönlich sehr gefällt. Dies vermittelt einen lockeren und vertrauten Eindruck, der uns über den Film begleitet.

Absurd und unkonventionell mutet  eine Szene an, die sich relativ zu Beginn des Filmes abspielt: Hassan sitzt auf einer Schaukel,  während er aus dem Off erzählt, dass er in seiner Stammkneipe ein Gedicht geschrieben hat?! Ein ungewöhnliches Setting! 
In diesem Gedicht macht er seinem Ärger über die Filmbranche Luft. Zumindest über den Einblick, den er bislang in das Geschäft bekommen hat. Er will sich nicht verstellen, sondern „lieber spielen und glücklich sein“. Von vornherein ist klar, dass der Protagonist einen klaren Standpunkt vertritt. Auf dem Weg seine Träume zu verwirklichen, will er sich nicht verlieren und bleibt immer er selbst.

Die Szenen in Bruchsal bestehen hauptsächlich aus Sprechproben und den Bildern für Hassans Filmidee. Das Zusammenspiel dieser Komponenten wirkt auf mich gar nicht mehr wie ein Dokumentarfilm, sondern eher wie ein Spielfilm im Spielfilm. Erst wenn die gedrehten Szenen zu Ende sind und von Hassan und seinem Freund Medhi analysiert und reflektiert werden, erinnere ich mich wieder, dass es sich um einen Dokumentarfilm handelt. Irene von Alberti erzählt aber nicht nur von der Verfilmung des Drehbuchs – vielmehr geht es ihr um Hassan, der sich in Deutschland wie ein „Fremder“ fühlt. In einer Szene hat Hassan keine Lust mehr über dieses Thema zu sprechen und verlässt das Bild. Die coole Fassade des Palästinensers scheint zu bröckeln. Zum ersten Mal stellt sich das Gefühl ein, dass Hassan Nähe zulässt und wir die Chance auf einen Einblick in seine Gefühlswelt bekommen.

Und wir dürfen mehr über ihn erfahren: Früher hatte er kein Interesse an Büchern, heute sieht das anders aus. Er ist fasziniert von den Welten, in die Bücher entführen können. ‚Die Verwandlung‘ von Kafka war das erste Buch, das Hassan je gelesen hat. Zugegebenermaßen bin ich – wie wahrscheinlich viele andere Zuschauer – von dieser Aussage überrascht. Ich finde es beeindruckend, der Neugier nachzugeben und sich an diese durchaus anspruchsvolle Literatur heranzuwagen. Möglicherweise inspiriert es ihn und hilft dabei, die Ideen in seinem Kopf zu erweitern, sein Drehbuch zu schreiben oder einfach nur als aufgeweckter junger Mann durch die Welt zu gehen.

Für seinen Sprachgebrauch ist Kafka jedenfalls kein Nachteil. Das stellt er in seinem Drehbuch, aber auch in vielen Situationen im Film unter Beweis. So verwendet er das metaphorische Bild des Seiltanzes, um seine Wahrnehmung von Duldung zu beschreiben. Eine  Metapher, die ich als sehr passend empfinde, weil sie die Komplexität und den schmalen Grad der Thematik auf den Punkt bringt.

So sprachlich gewandt wie er ist, redet Hassan eigentlich sehr ruhig und reflektiert.  Wenn er sich aber wie bei dem Dreh einer Szene seines Films von den Kameras bedrängt fühlt, lässt er seinen Emotionen freien Lauf.  Auch für den Zuschauer hat dieser Moment eine Art „Hallo-Wach“ Effekt. Der Leidtragende aus dem Team wirkt sichtlich eingeschüchtert und die Stimmung am Set ist auch für den Zuschauer merklich ungemütlich.

Eine der stärksten Szenen des Films findet auf dem Vorplatz des Brandenburger Tors statt. Ein Demonstrant steht vor einem Pappschild mit der Aufschrift: „Deutschland ist kein Schlaraffenland – Asylrecht verschärfen“. Hassan stellt sich provokativ mit verschränkten Armen vor den Mann und starrt ihn an, ohne ein Wort zu sagen. Sichtlich nervös versucht dieser die unangenehme Situation aufzulösen. Die Szene ist für mich entscheidend im Film, da sie Hassans Meinung zum Thema Duldung und Asyl ohne Worte auf den Punkt bringt. Gleichzeitig zeigt sie auch seine selbstbewusste und einnehmende Art deutlich: „Hier bin ich!“, und „Was soll das?“ lese ich in seinen Augen. Er brennt förmlich für seinen Traum, sein Leben und will sich von nichts und niemandem aufhalten lassen.

In der Schlussszene ist Hassan in der marokkanischen Stadt Tanger. Dort trifft er den Schriftsteller Muhammed Mrabet, der für ihn ein Vorbild darstellt. Die Gesprächssituation findet am Strand statt und wirkt auf mich nicht so locker und unbefangen wie der bisherige Film. Das mag auch daran liegen, dass der Inhalt des Gesprächs von ernsten und tiefgründigen Themen geprägt ist. Muhammed erzählt, dass er seine Kindheit ähnlich wie Hassan verbracht hat und auch keinen Schulabschluss besitzt. Er, der weder richtig lesen noch schreiben kann, hat unheimlich viel zu erzählen. Im Alter von 20 Jahren war Muhammed immer angespannt und in viele Schlägereien verwickelt. Als er heiratete änderte sich das schlagartig und Muhammed wurde „super“ wie er selbst erzählt. Er gibt Hassan den Rat, ein „hübsches deutsches Mädchen“ zu heiraten. Und es klingt fast so, als wolle er ein Versprechen aus ihm herauskitzeln. Hassan reagiert aber so gut wie gar nicht auf dieses Thema. Seine einzige Reaktion: Er geht Schwimmen. Im Film vergleicht Hassan die Ehe mit einer Haft und so ist seine Reaktion keine große Überraschung für mich. In meinen Augen ist Hassan sich seines Platzes im Leben noch nicht bewusst und noch nicht bereit, sein Leben mit einer Partnerin zu teilen.

Heutzutage wird man schnell in Schubladen gesteckt oder muss bestimmte Rollen einnehmen – und Hassan? Er beschreibt sich selbst einfach nur als „Cola-Trinker“.  Das macht ihn interessant und zu einem wichtigen Teil unserer Gesellschaft, weil er sich anders mit dem Thema Identität befasst. „Ich bin so, wie ich bin“ ist sein Motto.

Doch kann man das in einem Dokumentarfilm wirklich sein? Ist Hassan der taffe und selbstbewusste Mann, der er behauptet zu sein? Viele Szenen des Films deuten darauf hin, dass zumindest die Filmemacherin ein anderes Bild von ihm hat: Über die Themen Asyl und Duldung will er nicht sprechen, zu viel Nähe des Filmteams bringt ihn auf die Palme und eine Partnerin an seiner Seite kann er sich zum jetzigen Zeitpunkt nur schwer vorstellen.
Das bereits erwähnte spielerische Vorgehen der Filmemacherin erweckt nicht nur Vertrauen beim Zuschauer, sondern trägt auch dazu bei, dass Hassan sich mehr und mehr öffnet. Aus dem einfachen „Cola-Trinker“ wird ein Mensch, der sich sehr wohl darum sorgt, was um ihn herum, aber auch mit ihm selbst geschieht.

Der Film von Irene von Alberti zeigt uns diese Seite und lässt mit der Einsendung des Drehbuches an das ZDF als letztes Bild eine Perspektive für Hassan offen.

Der Film ist derzeit in der 3sat-Mediathek zu sehen.