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What will be, will be – Die Faszination für das Unvorhersehbare

Die Referenz erweisen (2): Rosa Hannah Ziegler, Stipendiatin der doku.klasse 2016 & 2019, über An- und Abwesenheiten beim dokumentarischen Arbeiten, das Sprechen aus dem Off, den Einfluss der Kamera und wie sich Unvorhersehbares und Unausweichliches in ihren Filmen dokumentiert. Die Fragen stellte der Filmemacher und Festivalkurator Sven Ilgner.

„Es geht für mich im Dokumentarfilm um die Suche nach einer Darstellungsform der Wirklichkeit, die dem Zuschauer die Möglichkeit lässt, sich die jeweilige Geschichte selbst zu Ende zu denken, und offene Fragen selbst zu beantworten.“

TEXTE AUS DEM OFF, TEXTE AUS DEM HERZ

Sven Ilgner: In vielen deiner Filme hören wir die Gedanken der Protagonist*innen. Zum Beispiel in A GIRL’S DAY oder ICH HABE DICH GELIEBT. Wir lernen sehr persönlich kennen, welche Fragen sie sich stellen, welche Ängste und Wünsche sie haben. Wie sehr greifst du bei diesen Texten ein. Wie entstehen sie? Welche Texte kommen für dich in Frage, welche vielleicht nicht?

Rosa Hannah Ziegler:  Bei jedem Film ist die Gewichtung der Tongestaltung und Verwendung von Sprache anders, es muss immer eine thematische Entsprechung geben. Das jeweilige Thema und die Situation der Protagonist*innen geben vor, was für eine Form der Film annehmen und wie viel Off -Text eingesetzt wird. Geräusche und Atmos können auch viel vermitteln. Wenn es sich um eine sehr persönliche Geschichte handelt, ist natürlich klar, dass persönliche Inhalte thematisiert werden, weil es ja z.B. gerade um die Bewältigung von schwierigen Situationen geht. Der Impuls muss aber von den Protagonist*innen kommen:  Sie entscheiden während der Vorbereitung und während der Dreharbeiten, was sie teilen möchten und was nicht. Ich gebe ihnen eine Stimme. Ich will, dass ihnen zugehört wird. Dass man verstehen kann, warum sie so sind, wie sie sind.

Mich fasziniert, wie Leute erzählen. Yasmin (aus: „A Girl`s Day“) zum Beispiel, verarbeitete all ihren Schmerz und ihre Empörung in ihren Gedankenbüchern durch das Schreiben. Die Auswahl dieser Off-Töne haben wir gemeinsam getroffen. In der Montage habe ich überprüft, wie diese Texte mit den gedrehten Einstellungen korrespondieren. Ben (aus: „Ich habe dich geliebt“), der fast kontinuierlich spricht, verliert sich in Aggression und Vorwürfen. Katharina versucht, ihn abzublocken. Am Ende setzt er einen Punkt. Er tätowiert sich einen ganzen Satz auf seine Haut. Ein Satz, der seinen gesamten Schmerz, aber auch seinen Überlebenswillen zusammen fasst: „Endure and survive“.

Filmstill aus: „Ich habe dich geliebt“ von Rosa Hannah Ziegler

Als ich die Idee hatte, einen Film über Ben und Katha zu machen, sollte es ein Film über ihre entstehende Liebe werden. Die Spannungen in der Beziehung des jungen Paares nahmen zu. Aus einem Film über den Beginn einer Liebesbeziehung wurde ein Film über den Versuch, eine Beziehungskrise zu überwinden. Es war nicht vorhersehbar, was passieren würde, als wir mit den Dreharbeiten begannen. Sie sagten mir, dass sie die Geschichte ihrer Beziehung erzählen wollen, auch wenn sie nicht sicher sein könnten, was die letzte Szene sein würde. Diese unvorhersehbaren Wendungen sind es, die mich an dokumentarischer Arbeit immer faszinieren.

 NÄHE UND INTIMITÄT

Sven Ilgner: Es ist sehr beeindruckend, wie du es schaffst, Teil von intimen, intensiven Gesprächen zu sein. DU WARST MEIN LEBEN erzählt von sehr berührenden und schwierigen Momenten zwischen Mutter und Tochter. Wie erzeugst du das Vertrauen, dass die beiden sich so filmen lassen? Versuchst du, dich unsichtbar zu machen oder bist du ein Teil der Situation?

Rosa Hannah Ziegler: Ich bin natürlich mit dem Film Teil der Situation –  alleine die Kamera an einem Ort aufzustellen ist ein Eingriff, der etwas verändert. Manchmal werden Dinge ausgesprochen, die ohne den Film ungesagt bleiben würden. Die Kamera kann als Schutz dienen. Es kommen Geschichten zu Tage, die vielleicht jahrelang verdrängt wurden.

Ich mache keinen großen Unterschied zwischen Leben und Film. Das geht ineinander über. Ich lebe mein Leben. Und wenn ich drehe, habe ich schon vor Drehbeginn sehr viel Zeit mit den Protagonist*innen verbracht. Für mich und meine künstlerische Arbeit ist es wichtig, immer wieder in die Wirklichkeit Anderer einzutauchen. Das ist eine Bereicherung und eine Belastung. Es ist oft anstrengend. Man trifft auf unglaubliche Schicksale. Ich finde, dass in unserem digitalen Zeitalter mit all den Beauty Filtern, Fake News, Deep Fake-Möglichkeiten und Selbstoptimierungstrends es wichtig ist, Menschen zu begegnen, die sich so zeigen – ungeschönt, ungeschminkt, mit all ihren Unzulänglichkeiten, Ängsten, Sehnsüchten und Fehlern.

LANDSCHAFTEN UND SEELENRÄUME

Sven Ilgner: Die Form und Wirkung eines Films ist zu einem großen Teil bedingt durch die Montage, den Schnitt. Durch die Entscheidungen, welche Bilder und Töne auf was folgen. Dadurch entwickeln wir als Zuschauende Emotionen und bauen uns eine Geschichte, bzw. einen Ablauf im Kopf zusammen. Viele deiner Filme haben Sequenzen, in denen Landschaften, Gebäude oder Wohnungseinrichtungen zu den Personen und Gesprächen montiert werden. Wie sehr wird die Wirklichkeit der Menschen in deinen Filmen von Natur und Architektur erzeugt? Wie suchst du nach Landschaftsbildern und Orten, um die Seelenräume deiner Protagonist*innen wahr und fühlbar zu machen? Immerhin inszeniert man damit ein Gefühl für die Protagonist*innen.

Rosa Hannah Ziegler: In der Recherchezeit schaue ich mir immer sehr genau die Orte an, an denen die Protagonist*innen leben und sich aufhalten. Ich filme das, was sie umgibt. Die Lebensräume, in denen wir uns aufhalten beeinflussen unsere Stimmungen und Handlungen, die Art und Weise zu denken. Viele meiner Protagonist*innen hatten einfach nicht das Glück, in einer gepflegten, wohlhabenden Gegend behütet aufzuwachsen oder zu leben.

Der Ort ist für mich genauso Protagonist wie die Menschen, die ich porträtiere.
Ich versuche ihre Orte und Situationen zu verstehen, nachempfindbar zu machen.

Natürlich überlege ich, welche Orte (in welchen Bildausschnitten) die Lebensumstände/Situationen und emotionalen Zustände der Protagonist*innen kennzeichnen. Dazu kommen aber noch viele andere Entscheidungen, zum Beispiel was die Farbgebung und Montage angeht. Ästhetische Komposition braucht einen dramaturgischen Unterbau, je nach erzählter Situation.

Gemeinsam mit dem Bildgestalter in Gesprächen in der Drehvorbereitung diskutieren wir Herangehensweisen und erarbeiten ein visuelles Konzept, das immer auch eine inhaltliche Korrespondenz hat. Im Verlauf der Dreharbeiten gibt es einen Abgleich, ob die Art der Kadrierung eine inhaltliche Entsprechung findet. Das unterscheidet sich thematisch von Film zu Film.

Es ist bedrückend, wie ein großer Wohnblock auf einer Kinoleinwand wirken kann, aber ob und wie die jeweiligen Protagonist*innen das selbst empfinden, was ihre eigene Perspektive, ihre eigene Wahrnehmung ist, bleibt immer eine Interpretation. Ein Bild öffnet sich immer verschiedenen Deutungsebenen.

Filmstill aus: „Du warst mein Leben“ von Rosa Hannah Ziegler

Wir haben in der Balkonszene bei: “Du warst mein Leben“ die Ausblicke auf die tatsächliche Umgebung während des Gesprächs gefilmt. Mir war eine zurückhaltende Kameraführung wichtig, um den beiden Frauen und dem Gesagten, dem Gespräch den notwendigen Raum zu geben. Die Umgebung selbst ist die normierte Umgebung eines Urlaubsortes für ’normale‘, also nicht gut betuchte Touristen auf einer Nordseeinsel.
Der Ausblick zeigt die angrenzenden Apartments und deren Fenster – hinter jedem dieser Fenster und Balkone spielen sich Lebensgeschichten, Tragödien, Komödien ab. Der Ort ist hier wie ein stummer Zeuge der Unausweichlichkeit des Gesprächs. 

WO SPRECHEN?

Sven Ilgner: Ob ein Gespräch „ehrlich und wahrhaftig“ auf uns wirkt, hat auch immer mit dem Ort zu tun, an dem die Menschen miteinander reden. Deine Protagonist*innen sitzen in ihren Wohnungen oder Häusern, auf dem Bett, am Esstisch, auf dem Balkon, im Auto, etc., dabei aber in künstlerischen Arrangements, in der Kadrage, die du mit der Kameraperson gemeinsam wählst. Wie greifst du dabei ein und platzierst die Menschen an Orten, an denen sie sprechen sollen? Lässt du die Protagonist*innen manchmal mitentscheiden über die Bilder von ihnen? Lässt du Gespräche und Interviews wiederholen? Ist das für dich Verfälschung, Inszenierung?

Rosa Hannah Ziegler: Natürlich hat die Umgebung in „Du warst mein Leben“ und die Architektur die Kadrage mitbestimmt, das ist mir bei jedem meiner Filme sehr wichtig. Vorab habe ich ein Konzept, wie ich die Architektur und Umgebung in meine Filme einbeziehen möchte. Dennoch sind wir primär den Protagonistinnen und ihren Impulsen gefolgt.

Mit den Protagonist*innen ergeben sich in der Vorbereitung oder während der Dreharbeiten Ideen für Szenen, Drehorte. Natürlich wünscht man sich gleich mit der ersten Einstellung schon genug Material zu haben, um eine bestimmte Situation erzählen zu können, aber das ist nicht immer möglich. Die Grenze zwischen Inszenierung und dem Dokumentarischen ist fließend. Manchmal werden Wiederholungen bei Interviews oder anderen Szenen gebraucht, um das, was mir an den Inhalten wichtig ist, besser zeigen zu können, manchmal möchten auch Protagonist*innen eine Wiederholung.

Mir geht es in meinen Filmen nicht um Moral. Ich versuche Lebensbedingungen, Erfahrungen und Umstände zu zeigen, so wie sie sind. Es soll wahrhaftig sein, und ich möchte die Menschen nicht idealisieren. Ich möchte meinen Protagonist*innen, die es oft schwer haben, die manchmal Verlierer*innen sind, eine Stimme geben und ihren Überlebenskampf zeigen. Wenn gedreht wird, kenne ich sie recht gut, Ich bilde das ab, was ich an dem jeweiligen Ort vorfinde. Ich kann das nicht beeinflussen, ich kann das nur beobachten und dokumentieren. Und es würde mir falsch vorkommen, ein Happy End dazu zu dichten, wenn es keins gibt. Es gibt aber vielleicht die Hoffnung. Die Fortschritte und Veränderungen einer Lebenssituation können sich im Kleinen zeigen, in winzigen Schritten, da muss man eben genau hinschauen.

Mir ist es wichtig, dass eine gewisse Empathie möglich ist. Sich selbst ein Stück zu vergessen, mitzufühlen. Oder mit seinen eigenen Vorurteilen, mit sich selbst konfrontiert zu werden. Nicht immer sind die Protagonist*innen Sympathieträger*innen, das muss man aushalten.

 MUSIK ALS EMOTIONSMASCHINE

Sven Ilgner: Ein wichtiges Element deiner Arbeiten ist der Einsatz von Musik. Songs und Popmusik, die von den Protagonist*innen gerne gehört werden, wie z.B. in FAMILIENLEBEN. Siehst du dabei die Gefahr, dass Musik die empfundene Wahrhaftigkeit in eine Richtung drehen kann und so die Inszenierung dominiert?

Rosa Hannah Ziegler: Die Lieder in „Familienleben“ sind sehr wichtig. Es sind die Momente, in denen die Protagonisten sich ausdrücken, ihre Lieblingslieder singen, einen Song covern, und sich dabei verwandeln, Rollen einnehmen und sich in ein anderes Leben hinein träumen. Es sind Ausbruchsversuche aus ihrem Alltag und ein Versuch die Grenze zwischen Traum und Wirklichkeit zu verschieben.

 

Die Filme „Du warst mein Leben“ und „Ich habe dich geliebt“ sind auf der 3sat-Mediathek abrufbar.

 

Rosa Hannah Ziegler, geboren in Hamburg, studierte Regie an der Kunsthochschule für
audiovisuelle Medien in Köln. Mit ihrem Dokumentarfilm „Cigaretta mon Amour – Portrait meines Vaters“ (2006) gewann sie den Deutschen Kurzfilmpreis in Gold. Darauf folgten ihre mehrfach preisgekrönten Kurzfilme „Escape“ (2011) und „A Girl’s Day“, die auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt worden sind. Für die 3sat Sendereihe „Ab 18“ realisierte sie 2017 den Film ‚Du warst mein Leben‘, eine Fortsetzung von „A Girl‘s Day“. Der Film wurde mit den Grimmepreis 2018 und dem Burgerpreis 2021 auf der Nonfiktionale in Bad Aibling ausgezeichnet. „Familienleben“ (2018) ist ihr erster abendfüllender Dokumentarfilm, der auf der Berlinale (Sektion Panorama) seine Premiere feierte und auf zahlreichen internationalen Festivals gezeigt und prämiert wurde. „Ich habe dich geliebt“ (2020) ist ihr neuester Film, der auf der 44. Duisburger Filmwoche seine Premiere feierte, die internationale Premiere fand im Juni 2021 auf
dem Doker Festival statt, dem Internationalen Dokumentarfilmfestival in Moskau.

Sven Ilgner ist Filmemacher, Autor und Dozent. Er war viele Jahre tätig für verschiedene Filmfestivals wie das Kinofest Lünen, die Duisburger Filmwoche oder das Film Festival Cologne. Ab Herbst 2021 ist er Head of Program des Filmfestival Max-Ophüls Preis in Saarbrücken.